ALKE REEH & JOHANNA REICH
Im Zentrum des künstlerischen Schaffens von Alke Reeh steht die stetige Auseinandersetzung mit alltäglichen Erscheinungsformen, die sie aus ihrem ursprünglichen Kontext löst und in neue, überraschende Sinnzusammenhänge stellt. Dabei ist die Wahl ihrer Materialien genauso mannigfaltig, wie die von ihr gewählten Themen zahlreich sind. So werden etwa steinerne Gewölbe christlicher Kirchen und islamischer Moscheen in sorgsam genähte, weiche Tondi aus fließenden Stoffen übersetzt, wodurch die Wahrnehmung verändert bzw. geschärft wird.
Auch bei den in Münster gezeigten Arbeiten der Werkgruppe Röcke und Schnittmuster spielt das transformatorische Moment eine wichtige Rolle.
Starr, unnahbar und beinahe kühl wirken die aus Gips oder Porzellan bestehenden Arbeiten der Düsseldorfer Künstlerin auf den ersten Blick. Dabei erinnern sie in ihrer abstrakt geometrischen Formensprache an Konkrete Bildhauerei und weisen dennoch auch Bezüge zum Kunsthandwerk auf. So erscheinen einige der Plastiken fast wie überdimensionierte, jedoch stark reduzierte Bodenvasen, wie man sie in barocken Gärten finden kann. Erst in Verbindung mit der dazugehörigen Fotoserie lässt sich der Ausgangspunkt der Gebilde erkennen – auf Maß geschneiderte Kleider, Röcke und Oberteile. Mittels Fotomontage streift Alke Reeh den dort abgebildeten Menschen ihre Skulpturen wie Kleidungsstücke über, wodurch ihre Werke an Lebendigkeit gewinnen.
In ihrer nüchternen Darstellungsweise – frontal oder in der Rückansicht, in Schwarz-Weiß und vor neutralem Hintergrund aufgenommen – sehen die Bilder fast wie Entwürfe eines Modedesigners aus. Nicht umsonst mag der ein oder andere Betrachter sich dabei an die Kostüme Oskar Schlemmers erinnert fühlen, die er 1922 für das Triadische Ballett geschaffen hat. Aus Holz und Metall schuf er tellerförmige Röcke, verwandelte den menschlichen Körper in Ansammlungen von Kugeln oder versuchte ihn als senkrechte Scheibe wiederzugeben, um die Grenzen zwischen Figur und abstraktem Gebilde zu durchbrechen. Seine Gewänder waren jedoch zum Teil von solcher Steifheit, dass sie noch während der Uraufführung in ihre Einzelteile zerbrachen.
In den Fotoarbeiten von Alke Reeh ist nicht im Geringsten an Bewegungsfreiheit zu denken. Sanft schwingende Petticoats und enge, figurschmeichelnde Abendroben verwandeln sich hier in steinerne Korsette. Der Mensch wird dabei zur Nebensache, zur bloßen Staffage. Er ist plötzlich Mittel zum Zweck, nichts als eine bloße Puppe, deren Aufgabe in der Repräsentation besteht. Die frei im Raum stehenden Skulpturen scheinen ihn nicht länger zu benötigen, sie erhalten ihre Standfestigkeit aus sich selbst heraus. Und dennoch ist der Mensch in die Röcke und Oberteile eingeschrieben, hat in ihnen seine Spuren hinterlassen. Allein das menschliche Volumen bildet den Maßstab für die Skulpturen. Doch trotz der Abwesenheit des Körpers bleibt der Mensch noch immer erkennbar, wodurch das Figurative und das Abstrakte sich gegenseitig zu durchdringen beginnen.
Aufgrund der gegensätzlichen Wahl des harten Materials – Gips und Porzellan statt Stoff – eröffnen sich zugleich auch architektonische Bezüge in den dreidimensionalen Arbeiten. Unbewegliche, gebaute Oberflächen und dennoch weiche, runde Formen lassen sich leicht mit frühzeitlichen Behausungen oder Schutzräumen assoziieren. Längst haben ihre Bewohner sie verlassen und trotzdem ist ihre vormalige Anwesenheit spürbar, wenn man solche Orte heutzutage aufsucht. Eben jene Aura ist auch in der intensiven Auseinandersetzung mit den Werken von Alke Reeh deutlich spürbar.
Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit entsteht maßgeblich durch den ständigen Abgleich mit anderen Personen. Erst im Erkennen des ‚Anderen‘ und in der Abgrenzung dazu können wir das eigene ‚Ich‘ konzipieren. Insbesondere in der Jugend spielen Vorbilder, an denen man sich orientieren und deren Eigenschaften man adaptieren kann, eine zentrale Rolle in der Ausformung der eigenen Identität. So können beispielsweise Medienpersonen Vorlagen darstellen, die im Jugendalter Orientierung bieten, potentielle Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und als Fundus für die Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit dienen. Dabei werden die Vorlagen nicht bloß schlicht übernommen, sondern selektiert, modifiziert und je nach Situation neu gestaltet. In ihrem partizipatorischen Projekt „HERONIES und AMAZONEN“ untersucht Johanna Reich den Einfluss von Vorbildern und die persönliche Lebensentwicklung von jungen Mädchen und Frauen in verschiedenen Lebensaltern.
„HEROINES“ ist eine bildnerische Auseinandersetzung von jungen Mädchen im Teenageralter mit ihren medialen Vorbildern. In Gesprächen mit der Künstlerin berichteten die Teilnehmerinnen, welche (pop-)kulturelle Persönlichkeit sie faszinierend fanden und wählten ein Bild ihres Idols (z.B. Lady Gaga, Frida Kahlo oder Coco Chanel) aus. Dieses Bild wurde dann auf das Gesicht der Teilnehmerin projiziert, die selbst ihre Haltung und Gestik auswählte. In der Verschmelzung bzw. Überblendung von Projektion und Gesicht entstehen neue, eigenständige Porträts, die Johanna Reich nach den Halbgöttinnen der Antike – Heroines – betitelt. In den Fotos und Videos wird der Körper der Mädchen zur Projektionsfläche für die Abbildungen ihrer Vorbilder. Körper und Abbildung überlagern und verbinden sich zu metamorphosen Wesen, bei denen teilweise auf den ersten Blick nicht mehr sichtbar ist, welche Körperteile zu welcher Figur gehören. Es verbinden sich hier zwei unterschiedliche Arten der Selbstdarstellung: Zum einen die idealisierte und ikonenhafte Inszenierung der Idole, die als mediale Konstrukte für oft unerreichbare Wunschbilder und Träume stehen. Zum anderen die alltägliche Gegenwart der jungen Mädchen in ihrer Alltagskleidung, die noch im Begriff sind, ihre eigenen Formen der Selbstdarstellung zu finden. In „HEROINES“ wird die innerliche Gedankenwelt und Identitätsfindung der Teilnehmerinnen in ein sichtbares Bild transformiert und zeigt sich auf der Oberfläche der Körper der Mädchen – der so Leinwand ihrer ganz persönlichen, inneren Entwicklung wird.
Während in „HEROINES“ noch zukünftige Wunschvorstellungen und der Abgleich der eigenen Persönlichkeit mit den illusionären Inszenierungsstrategien der Popkultur im Fokus stehen, geht es im zweiten Teil des Projektes um reale Lebensgeschichten und den Rückblick auf das, was verwirklicht werden konnte. In „AMAZONEN“ verzichtet Johanna Reich ganz bewusst auf den Einsatz von Bildern und arbeitet ausschließlich mit Tondokumenten. Dafür hat sie Frauen verschiedener Generationen zu der Zeitspanne 1945 – 2015 interviewt. Sie erzählen von ihrem Lebensweg, ihren Entscheidungen, Vorbildern und dem Wandel der Frauenrolle von 1945 bis heute. Dabei spielen immer wieder die Konflikte zwischen den eigenen Idealvorstellungen und Wünschen für das eigene Leben und der Anpassung an gesellschaftliche Gegebenheiten eine zentrale Rolle. In ihren Interviews untersucht Johanna Reich, inwieweit Rollenverhalten gesellschaftlichen Strömungen unterliegt oder von individuellen Entscheidungen geprägt ist, und wie sich die Arbeits- und Lebensbedingungen und das Rollenbild der Frau in Deutschland verändert haben.
Die Arbeiten von Johanna Reich laden jeden Besucher/jede Besucherin dazu ein, sich über sein/ihr eigenes Leben und die darin enthaltenen Beeinflussungen von Vorbildern Gedanken zu machen.